Antigone, die Tochter des Ödipus, kämpft für die Freiheit des Individuums. Sie kämpft gegen die staatliche Kontrolle über alle Lebensbereiche und verlangt ein würdiges Begräbnis für ihren geliebten Bruder Polyneikes. Ihre Bestrebungen prallen jedoch auf den Thebens Herrscher Kreon, der die Gesetze der Polis unnachgiebig umsetzt und ein Begräbnis des Vertreters Polyneikes verbietet. Antigone und Kreon stehen für den Widerstreit zwischen individuelle Freiheit und verbindlichen Regeln, die für gesellschaftliches Zusammenleben notwendig sind - ein existentieller Konflikt, der in de Zeiten der Pandemie nicht nur aus der Bühne thematisiert wird.
Mit: Barbara Fressner, Claudia Sutter, David Lukowczyk, Alexander Wilß, Carsten Faseler, Robin Behrens, Lea Gerstenkorn, Ogün Derendelli, Tim Tölke
Regie: Paulina Neukampf
Bühne/Kostüm: Tobias Kreft
Sound: Sarah de Castro
Der Chor, auf vier Stimmen hinter milchig durchlässigen Masken reduziert, wird zum unentschlossenen Transporteur von Weltsicht, sozialer Mahnung und Meinung. Film, Schauspiel, Musikcollagen gehen Hand in Hand in der personell stark eingestrichenen Fassung, rund um Textfragmente des Sophokles und dem philosophischen Diskurs „Was ist Macht." (...)
Überhaupt ist dieser körperlich agile Chor in seiner Funktion als Berater des Königs nicht länger Symbol der Geschlossenheit, sondern ein subtiles Grüppchen. Wandelbar vom müden Claqueure des Tyrannen geben sie den Affen, eben noch Dionysien versinken sie achselzuckend in Belanglosigkeit – und bestechen gerade in stillen Momenten. (...)
Vielleicht ist es diesem Fokus geschuldet, dass die „Antigone" verblasst und ein Drama über Kreon im Vordergrund steht – und damit den Zeitgeist aufgreift, der Tyrannen mit ihrer unberechenbaren Narretei sehr viel mehr mediale Aufmerksamkeit schenkt, als deren Opfer. David Lukowczyk gibt den Kreon als Despot, der die Klaviatur eines gefährlichen Zynismus beherrscht.
Ann-Britta Dohle, 12.10.2020 Neue Westfälische
Die Handlung ist eine historische, die Problematik jedoch eine hochgradig aktuelle. Denn in Zeiten von Corona ist es an jeder Bürgerin und jedem Bürger, sich zu entscheiden. Folge ich den von Staatswegen vorgegebenen Richtlinien, oder beharre ich auf die per (Grund-)Gesetz zugestandenen Freiheiten? Der moralisch-ethische Abwägungsprozess ist der zentrale Konflikt der auf 60 Minuten komprimierten Tragödie, die sich von Regisseurin Pauline Neukampf an die viral wie medial beherrschte Gegenwart angepasst sieht.
(Unsichtbare) Masken überall. Dazu eine Großleinwand, die Augen und Münder in grotesker Übergröße reproduziert. Big Brother is watching you. And speaking to you. Natürlich indirekt, natürlich aus der Distanz, natürlich unpersönlich. Selbst die Figuren, die szenisch interagieren, scheinen aneinander vorbei zu reden, vermeiden direkten Kontakt. Hier macht jeder sein Ding, hier trägt jeder einen Panzer. Abstand als neue Nähe, Überwachung als Kontrollinstrument.
Noch mehr gesellschaftlicher Spiegel gefällig? Nur zu, denn selbst das Publikum sieht sich verdoppelt, sind auf der Bühne doch mehrere Sitzreihen installiert, von denen der maskierte Chor Richtung Zuschauermenge starrt. Und wir starren zurück. Und sehen: Uns selbst. (...)
Jenseits von Genres und Gattungen, Zuschreibungen und Umschreibungen. Denn Gerechtigkeit und Nächstenliebe kennen keine Stilrichtung, keine Kompromisse, keine Anpassung an willkürlich wechselnde Moden. Sie sind über jeden Zeitgeist erhaben.
Dietmar Gröbing, 26.10.2020
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